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Die Vergiftung der Erde

Metaphern und Symbole agrarpolitischer Diskurse seit Beginn der Industrialisierung

Erschienen am 07.06.2018, 1. Auflage 2018
46,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593508818
Sprache: Deutsch
Umfang: 512 S.
Format (T/L/B): 3.2 x 21.6 x 14.2 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Klingende Worte beschreiben die Zerstörung der Natur. Die Rede ist von Pestiziden, die Mensch und Tier vergiften, vom gestörten ökologischen Gleichgewicht, von erschöpften Böden. Die ökologische Krisenpublizistik hat Metaphern hervorgebracht wie Ackergift und Mutter Erde, Waldsterben und chemischer Tod, Giftwelle und Krieg gegen die Natur. Die Vergiftung der Erde ist nicht bloß ein toxikologischer Befund, sondern eine kulturelle Leitmetapher in ökologischen Diskursen. Was ist deren naturwissenschaftlicher Kern? Gründen diese politischen Metaphern gar in jahrhundertealten antijüdischen Stigmawörtern wie der Brunnenvergiftung? In einer faszinierenden Studie verbindet der Autor Aspekte der agrarischen Industrialisierung mit der Geschichte der politischen und religiösen Giftmetapher, der Naturwissenschaft vom Gift und der Geistesgeschichte organischer Erdmetaphern.

Autorenportrait

Jan Grossarth ist Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Leseprobe

1. Vom Märchen- zum Merkelgift: Thematische Hinführung Die Ökologie ist nicht reine Naturwissenschaft. Sie steht für einen ganzheitlichen Blick, der kultur- oder zivilisationskritische Aspekte umfasst. Ökologie verbindet stoffliche mit politischen, biochemische mit geistigen Elementen. Ökologische Schriften formulieren von Beginn an auch Kulturkritik im Lichte des beispiellosen Menschheitsprojekts der Industrialisierung. Damit ist die Ökologie der natürliche Gegenstand der Kulturwissenschaft. Der ökologische Blick verbindet vielfältige Perspektiven miteinander. Das sprachliche Mittel der Verbindung ist die Metapher. Die Ökologiegeschichte ist reich an Metaphern, die auch Gegenstand dieses Buches sind: Ackergift und Mutter Erde, Waldsterben und chemischer Tod, Giftwellen und Krieg gegen die Natur, der Mensch als Krebsgeschwür, der Stumme Frühling, die ökologische Zeitenwende, die Erde Gaia, der Stoffwechsel von Mensch und Umwelt, das Naturgleichgewicht, Klimagift. In den Zwischenräumen der gegenwärtigen ökologischen Diskurse, die etwa anhand der Schlagworte Postwachstum, Kapitalismus, Globalisierung, Transhumanismus, Anthropozän oder "global warming" geführt werden, vor allem aber im Diskurs über die industrialisierte Landwirtschaft und den chemisierten Ackerbau, hat sich die Metaphorik der Vergiftung am Leben erhalten. Die folgenden Seiten führen viele Beispiele auf. Die Giftmetaphorik ist besonders geschichts- und facettenreich. Ihre Verwendung unterliegt kulturellem Wandel. Diesen aufzuzeigen, zu erhellen und zu begründen, ist die Absicht dieser Arbeit. In den vier vorangestellten Textpassagen, die die semantische und zeitspezifische Vielfalt der Giftsemantik andeuten, wird in jedem Fall eine ganz andere Sache beschrieben: Im Märchen vergiftet die eitle und gekränkte Stiefmutter das Schneewittchen, ein unschuldiges Kind, weil es schöner ist als sie selbst; das Märchen handelt von Eifersucht und ungerechter Verfolgung eines gutherzigen, naiven und vor allem schönen Wesens. Gemäß der völkischen, antisemitischen Prosa vergiftet eine Religionsgemeinschaft, die jüdische, die als ein "Volk" beschrieben wird und der nur die bösesten Absichten unterstellt werden, das eigene, als rein und edel begriffene "Volk". Der märchenhaft konstruierte Vergiftungsvorwurf ("planmäßig wurde das Deutsche Volk [.] vergiftet" ) fungiert wenige Jahre später bekanntlich als Legitimation dafür, selbst hemmungslos mit Gift(gas) zu morden und gewissermaßen zurück zu vergiften. Im Autorenjournalismus der 1960er Jahre ist es das giftschuldige Volk selbst, das nun nicht mehr als rein gedacht werden kann. Vielmehr sind es die industrialisierten Nationen überhaupt, die zum Vergifter werden. Sie vergiften nun wortwörtlich alles - die Natur, die Umwelt, mithin sich selbst: "Ganz legal [.] sind wir eifrig dabei, unsere Umwelt und uns selbst zu vergiften." Dies allerdings tun sie - ein entscheidender Unterschied zu den Giftnarrationen des Märchens und der antisemitischen Propaganda - nun, in mancher Hinsicht, wirklich. Die folgenden Kapitel blicken zurück auf die Geschichte und Gegenwart ökotoxikologischer Katastrophen, aber auch auf im Rückblick überdramatisierte Schilderungen. In dem Hiphop-Lied der 2000er Jahre ist das All-Vergiftungswerk gewissermaßen vollendet: "Alles ist vergiftet". Diese Klage allerdings wird nun leidenschaftslos vorgetragen, lakonisch referiert, aber es ermangelt spezifischer Gedanken bezüglich der Frage, welcher Art das Gift genau ist und wer es gestreut, gespritzt, verteilt haben mag, wem es schadet; es ist einfach so, und man bewegt sich in dieser toxischen Welt mit einer gewissen Lethargie. Der Song geht so, als gebe es keine Schuldigen und keinen Ausweg aus der Konsumsucht, für die verschiedene Symbole stehen: RTL2, Buffalos, Tofu - zum oberflächlichen Konsumismus, dem der kulturwissenschaftliche Diskurs über die Popularkultur identitätsstiftende Funktionen in Gestalt einer "Fiktionalisierung des Selbstverhältnisses" oder

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